Endlich Konsequenzen aus dem NSU-Terror und Staatsversagen ziehen

Martina Renner
Martina RennerReden

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen Abgeordnete! Es geht darum, ein Versprechen einzulösen, das Politik und Regierung gegeben haben: restlose Aufklärung im NSU-Komplex. Denn für die Angehörigen der vom NSU Ermordeten und die Verletzten der Sprengstoffanschläge gilt noch immer, was Aysen Tasköprü im Februar 2013 an Bundespräsident Gauck geschrieben hat. Sie schrieb: „Alles, was ich noch möchte, sind Antworten.“

Wenn wir heute über Konsequenzen und Schlussfolgerungen aus dem Untersuchungsausschuss sprechen, dann müssen wir nicht nur zu den Vorschlägen Bilanz ziehen, die von allen Fraktionen gemeinsam unterbreitet wurden und auf deren vollständiger Umsetzung wir bis heute harren. Wir müssen auch über schmerzhafte Erkenntnisse sprechen, die viele von uns in den letzten zweieinhalb Jahren gewonnen haben.

Ich war Mitglied des Thüringer Untersuchungsausschusses. Ich bin unzufrieden, dass wir bis heute nicht wissen, warum die Fahndung nach dem mutmaßlichen Kerntrio des NSU seit 1998 erfolglos blieb. Ich bin unzufrieden, dass wir noch immer nicht wissen, was das Motiv für die Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn war. Ich bin unzufrieden, dass wir noch immer nicht wissen, welche Rolle die V-Leute im NSU-Unterstützernetzwerk tatsächlich innehatten und was am 4. November 2011 in Eisenach tatsächlich geschah. Aber meine offenen Fragen sind nichts gegen das nicht eingelöste Versprechen auf Aufklärung, wie es die Angehörigen der durch den NSU Ermordeten beklagen, und die mangelnde Bereitschaft, über Rassismus zu sprechen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will anhand von drei aktuellen Beispielen meine Zweifel zum Ausdruck bringen, ob wir wirklich alles, aber auch alles unternehmen, damit menschenverachtende Einstellungen, Rassismus und daraus folgende Gewalttaten zurückgedrängt werden. Erstens. Ich erwarte beim Thema Neonazigewalt endlich eine neue Ermittlungskultur der Polizei. Wenn wie vorletztes Wochenende in Thüringen 15 bis 20 Neonazis eine Veranstaltung im Gemeindesaal von Ballstädt überfallen und ein Dutzend Menschen zum Teil schwer verletzen, dann will ich keine Erstmeldungen mehr lesen, in denen zielgerichtete, organisierte Neonaziangriffe als Kirmesschlägerei unter Alkoholeinfluss verharmlost und entpolitisiert werden.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zweitens. Ich erwarte auch von den Staatsanwaltschaften ein anderes Umgehen mit der tödlichen Dimension neonazistischer Gewalt. Ende April beginnt vor dem Landgericht Kempten der Prozess gegen mehrere Thüringer Neonazis, die im Sommer 2013 einen 34-jährigen Mann aus Kasachstan auf einem Volksfest in Kaufbeuren zu Tode geprügelt haben sollen. Einer der Tatverdächtigen hatte die Opfer des NSU im sozialen Netzwerk Facebook verhöhnt. Die Staatsanwaltschaft Kempten ist sich schon vor Prozessbeginn sicher, dass kein ausländerfeindliches, rassistisches oder rechtsextremes Motiv vorliegt. Da fühle ich mich an die Justizakten der 90er-Jahre zu schweren Neonazigewalttaten erinnert, die wir alle gelesen und kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen haben. So etwas darf sich nie wieder wiederholen.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Drittens. Und die Politik? Das Innenministerium in Stuttgart hat gerade einen Bericht vorgelegt; ich muss den Titel nicht wiederholen, da ihn Herr Binninger bereits genannt hat. Darin wird jede rassistische Ermittlungspraxis gegen Angehörige der Roma-Minderheit nach dem Mord an Michèle Kiesewetter in Heilbronn klipp und klar geleugnet. Das ist Reinwaschen in Reinkultur. Von der geforderten neuen Fehlerkultur keine Spur! Auch das müssen wir klar benennen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Kurzum: Das Aufklärungsversprechen von Bundeskanzlerin Merkel treibt mich und, wie ich gesehen habe, auch viele andere Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus weiter um. Wir alle unterliegen sicherlich parteipolitischen Zwängen. Aber wir werden so lange weiterfragen ‑ das versprechen wir ‑, notfalls jahrelang, bis sich etwas ändert und Aysen Tasköprü endlich Antworten hat.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)