Die Macht des Dudens

Quelle: www.spiegel.de

Das Innenministerium erhebt "männerfeindliche" und "deutschfeindliche" Straftaten. Martina Renner erklärt: „Die Bundesregierung selbst verzichtet beispielsweise auf eine wissenschaftliche Definition der Kategorie ‚Männerfeindlichkeit‘ und gibt sich mit der Wortbedeutung aus dem Duden zufrieden.“ Die Kategorie „Deutschfeindlichkeit“ wirke nicht weniger gekünstelt. Es gehe der Bundesregierung eher darum, die Statistik „abzurunden“, sagt Renner.

Das Innenministerium erhebt »männerfeindliche« und »deutschfeindliche« Straftaten – über den Sinn dieser Kategorien wird gestritten. Jetzt ist klar: Sie sind auch so vage, weil sie nur auf Definitionen des Dudens basieren.

Jährlich machen Zahlen aus dem Bundesinnenministerium Schlagzeilen: Bei der bundesweiten Statistik für »politisch motivierte Kriminalität« (PMK) bilden die deutschen Sicherheitsbehörden die Gefahren durch Rechtsextremismus, religiöse Ideologien wie den Islamismus oder sonstige politisch motivierte Gefahren von Straftaten bis Terrorismus ab. Die Daten zeigen, welche Bevölkerungsgruppen in Deutschland aufgrund von Menschenfeindlichkeit und Hassideologien in Gefahr sind.

Daraus lassen sich nicht nur große Sicherheitsdebatten ableiten, auch konkrete politische Maßnahmen folgen der Statistik: Synagogen werden bewacht, weil der Antisemitismus grassiert, muslimische Gemeinden bekommen extra Beratung, um sie sicherer zu machen, queere Orte stehen nach vielen homo- und transfeindlichen Angriffen unter besonderer Beobachtung der Sicherheitsbehörden.

In der PMK-Statistik tauchen dabei stets zwei auffällige Kategorien auf, die Horst Seehofer eingeführt hat und die auch unter Nancy Faeser weiter existieren: »Deutschfeindlichkeit« und »Männerfeindlichkeit«. Sind Deutsche und Männer genauso gefährdet wie etwa Nicht-Weiße oder Frauen? Das konkrete Ziel von Hassideologien? Seit Jahren gibt es Debatten über den Sinn dieser Kategorien – darunter fallen im Vergleich zu etwa rassistisch motivierter Kriminalität marginal wenige Fälle. Trotzdem wird daran festgehalten.

Unklar war bisher auch, wie genau diese Kategorien gefasst sind. Normalerweise wird bei der Definition sicherheitspolitischer Ziele und der Datenerhebung kriminologisches Wissen aus den Behörden und der Forschung herangezogen. So definiert das Ministerium zum Beispiel Rassismus oder Rechtsextremismus ausführlich in einem eigenen Lexikon nach wissenschaftlichen Standards und beachtet dabei verschiedene Aspekte, die diese Phänomene ausmachen.

Im Fall der beiden Kategorien »Deutschfeindlichkeit« und »Männerfeindlichkeit« stützt sich das Bundesinnenministerium jedoch ausschließlich auf die Definitionen aus dem Duden – das geht aus der Antwort des Innenministeriums auf eine aktuelle kleine Anfrage der Partei Die Linke im Bundestag rund um die Abgeordnete Martina Renner hervor, die dem SPIEGEL vorliegt.

Dabei sind diese Definitionen extrem kurz, dafür aber allgemein. Über »Deutschfeindlichkeit, die« heißt es nur: »deutschfeindliche Gesinnung, Einstellung«. Und bei der Suche nach dem Schlagwort »Männerfeindlichkeit« schlägt duden.de das entsprechende Adjektiv vor: »den Männern gegenüber feindlich, nicht wohlwollend eingestellt«.

Die Linken-Abgeordnete Martina Renner sieht in der Duden-orientierten Politik von Nancy Faeser wenig Sinn. »Die Bundesregierung selbst verzichtet beispielsweise auf eine wissenschaftliche Definition der Kategorie ›Männerfeindlichkeit‹ und gibt sich mit der Wortbedeutung aus dem Duden zufrieden.« Die Kategorie »Deutschfeindlichkeit« wirke nicht weniger gekünstelt. Es gehe der Bundesregierung eher darum, die Statistik »abzurunden«, sagt Renner. Heißt: Auch Deutsche und Männer sollen – zumindest sprachlich – ein bisschen Opfer sein dürfen? Ins BMI-Lexikon haben es die beiden Begriffe nicht geschafft. Große Bedeutung, so scheint es, haben diese Phänomene in den sicherheitspolitischen Überlegungen des Ministeriums nicht. Davon lassen will man aber offenbar auch nicht.

Auch aus der Wissenschaft, insbesondere der Kriminologie, gibt es Kritik an den beiden Kategorien in der PMK-Statistik.

Auf Anfrage erklärt ein Sprecher des Innenministeriums, dass »die Formulierungen aus dem Duden gewählt wurden, da diese allgemein verständlich sind und dem Duden allgemein eine deskriptive, also beobachtende Funktion der deutschen Sprache beigemessen wird«. Auf die Forderung der Opposition, wissenschaftliche Expertise heranzuziehen, heißt es: »Weitere kriminologische oder sicherheitspolitische Quellen zur Definition sind hier nicht erforderlich.«

Klar ist: Solche vagen Definitionen machen den Interpretationsspielraum sehr groß. Recherchen hatten in der Vergangenheit skurrile Fälle hinter diesen beiden Kategorien in der PMK aufgedeckt. Dafür waren mehrere Anfragen an die Landeskriminalämter und Innenministerien der Länder nötig. Das Ergebnis: Viele Petitessen, eher kleine Anekdoten, die von der Polizei im offiziellen Auftrag des Rechtsstaats aufwendig in die Statistik aufgenommen wurden.

Die neueste PMK-Statistik bildet Fälle aus dem Jahr 2023 ab. Für das Jahr 2024 gibt es vorläufige Daten, die ebenfalls in der kleinen Anfrage der Linken im Bundestag abgefragt wurden.

Großer Interpretationsspielraum

In der Kategorie »Deutschfeindlichkeit« spielt laut SPIEGEL-Recherchen Alkohol oft eine signifikante Rolle. Dementsprechend sind Kneipen typische Tatorte für »deutschfeindliche« Straftaten. Die Beleidigung ist das Delikt, das am häufigsten unter dieser Kategorie registriert wird. Manchmal auch in Verbindung mit anderen Delikten wie zum Beispiel Sachbeschädigung: So ritzten im Februar 2019 Unbekannte die Aussage »Deutschland Bitch« in ein parkendes Auto im baden-württembergischen Weil am Rhein

Für den Zeitraum Januar bis Dezember 2023 sind laut Bundesinnenministerium 175 Fälle sogenannter Deutschfeindlichkeit im Bereich der Hasskriminalität registriert worden. Auf Anfrage liefert das Ministerium auch aktuelle, aus Datenschutzgründen anonymisierte Beispiele für den Phänomenbereich. So haben unbekannte Tatverdächtige den Spruch »Scheiß deutsche Nazikartoffeln« auf ein Schulgebäude geschmiert, gibt das Ministerium an. In einem anderen Fall habe ein Vater seine Tochter geschlagen, als er erfahren habe, dass sie »von einem Deutschen schwanger sei«. Warum für das Ministerium hier Deutsch- und nicht Frauenfeindlichkeit als Motiv der Straftat gilt, bleibt offen.

Definitionsmacht in der deutschen Sicherheitspolitik

In der Kategorie »Männerfeindlichkeit« ist der Interpretationsrahmen offenbar noch größer, auch hier scheint die Duden-Definition viel Spielraum zu bieten: Ein exemplarischer Fall stammt vom 7. März 2022. Über die Berliner Polizei war eine Beschwerde in die PMK-Statistik eingeflossen. Im Stadtteil Friedrichshain fielen um 16.50 Uhr Schriftzüge am S-Bahnhof Warschauer Straße auf. »PATRIARCHAT ZERSCHLAGEN« und »FEMINISM IS FOR EVRYONE«. Die Täter oder Täterinnen nahmen die Schreibfehler billigend in Kauf. Im Jahr 2023 floss genau ein Fall von Hasskriminalität gegen Männer in die Statistik ein.

Und was sagt der Duden selbst zu seiner Definitionsmacht in der deutschen Sicherheitspolitik? Die Sprecherin des Verlags reagiert auf eine Anfrage verhalten. »Urlaubsbedingt können wir Ihnen keine kurzfristige Rückmeldung geben.« Der Verlag versichert aber, dass der Duden bei den Begriffen »Deutschfeindlichkeit« und »männerfeindlich« die gleichen Voraussetzungen wie für jedes Wort anwende. »Die Definitionen legen wir nicht fest, sie spiegeln wider, wie die Wörter im allgemeinen Sprachgebrauch genutzt werden.«

Auch hier ist aber die Frage, was es genau bedeutet, dass ein Wort im allgemeinen Sprachgebrauch genutzt wird. Ein Hinweis liefert die Nutzung von Suchmaschinen im Internet. Mit dem Tool »Google Trends« kann man die Anzahl von Suchanfragen auf der größten Suchmaschine der Welt einsehen, die in Deutschland immerhin auf 77 Prozent Marktanteil kommt, bei mobilen Endgeräten sogar auf knapp 96 Prozent. In den fünf vergangenen Jahren wurde hierzulande laut »Google Trends« kaum nach »Deutschfeindlichkeit« gesucht. Die Zahl der Suchanfragen liegt über Jahre konstant bei null. Beim Begriff »Männerfeindlichkeit« sieht es ähnlich aus.
Diesen Text finden Sie auch hier Die gesamte Antwort auf Martina Renners Kleine Anfrage gibt es hier