Humanist im Angesicht der Barbarei

Martina RennerNeuRechtsVor OrtReden

 

 Bei allem Bemühen der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, der Gedenkstätten und der verschiedenen Organisationen, das Erinnern wach zu halten, müssen wir eingestehen: Wir können uns das Grauen in den Konzentrationslagern nicht vorstellen. Es war die Menschennacht. Begriffe wie Gräuel, Verbrechen, Verrohung werden zu Klischees.

Was mich an Stéphane Hessel beeindruckt, wie auch bei vielen anderen Überlebenden und Widerstandskämpfern, aber bei ihm ganz besonders, ist unter solchen Umständen Humanist zu sein und bleiben. Nicht abzulassen von der Idee der Würde des Menschen, keine Rache, kein blinder Zorn. Vielleicht war es genau auch diese Haltung, die so viele beim Tod von Nelson Mandela aufrichtig und über alle Grenzen hinweg trauern ließen. „Aufrecht ohne Hass“ und das bei diesen Lebenserfahrungen.

Stephan Hessel war nicht nur vom Gedanken der Universalität der Menschenrechte erfüllt, er war ein überzeugter Europäer, ein Internationalist. Warum dies so viel mit den Erfahrungen am Ettersberg zu tun hat, spürt man, so finde ich, jedes Jahr erneut bei der Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Lagers. Wenn die Flaggen der Länder wehen, aus denen die Opfer und Verfolgten stammten, wenn die verschiedenen Sprachen auf dem Appellplatz erklingen.

Um beides, die Menschenrechten wie Europa, ist es nicht gut bestellt. Ritualisiert und leer sind die Bekenntnisse. Und unterschwellig, subtil, infam wird an der Demontage gearbeitet. Wir bräuchten Stephan Hessel, er würde seine Stimme erheben.

Schwarzhemden marschieren in Russland, Ungarn, Tschechien und Rumänien. Eingereiht der Mob. Es geht gegen Roma und Sinti, Homosexuelle und AntifaschistInnen. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung – alles geschieht. Zwangsumsiedlungen in Rumänien, in Ungarn schränkt man das Wahlrecht für Roma ein und in Moskau wird Jagd auf AntifaschistInnen, linke JournalistInnen und AnwältInnen gemacht.

In der Bundesrepublik erleben wir derzeit ein Déjà vu. Wer wollte, konnte sich angesichts des Jahrestages des Rostocker Pogroms im Jahr 2012 noch einmal in Erinnerung rufen, wie mediale Hetze, sekundierende Politik, rassistisch mobilisierte Bürger und Neonazigewalt Hand in Hand arbeiteten. Einer Welle ausländerfeindlicher Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und Wohnhäuser von MigrantInnen folgte die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl.

Das war vor zwanzig Jahren. Und heute. An mehr als 100 Orten machen Bürger und Neonazis Stimmung gegen Flüchtlinge und deren Unterbringung. Hellersdorf, Schneeberg, Greiz sind die prominenten Orte. Aber es gibt viele andere mehr. In Ost und West – in Stadt und Land. Geändert hat sich zu den 1990er Jahren, dass vielerorts 2

 

praktische Solidarität mit den Flüchtlingen gezeigt wird, dass die Aufrechten sichtbar mehr geworden sind. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir auch angesichts der rassistischen Ausfälle prominenter Politik gegen Flüchtlinge und MigrantInnen nicht vor einer neuen Welle ausländerfeindlicher und auch gewalttätiger Mobilmachungen stehen könnten.

Nach der Selbstenttarnung des NSU, nach den Versprechen auf Aufklärung und Konsequenzen hatte ich Hoffnungen, dass verstanden wird. Diese rassistische Mordserie und die Ermordung der Polizistin waren gespeist von der Ideologie der Ungleichheit des Menschen und der Verachtung des demokratischen Systems. Die Menschenwürde war Angriffsziel. Den Opfern wurde im Zuge der von Ressentiments geleiteten polizeilichen Ermittlungen die Würde ein zweites Mal genommen. Das ist, was die Angehörigen, die Familien der Opfer so traumatisiert. Deshalb dieser Nachdruck in München, die Erwartungen an das Gericht und die Erwartungen an die Öffentlichkeit, weiter Anteil zu nehmen.

Stephane Hessel hat es 2010 schon gesehen und geschrieben. In seinem kurzen aber prägnanten Text „Empört Euch“ schreibt er:

„Den jungen Menschen sage ich: Sehr euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung lohnt – die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestoßenen, der Sinti und Roma. Ihr werdet auf konkrete Situationen stoßen, die euch veranlassen, euch gemeinsam mit anderen zu engagieren. Suchet, und ihr werdet finden!“

Ich finde die konkrete Situation ist gekommen.