Antifaschismus

Die Antwort ist linke Politik

Quelle: Der neue Mahnruf/1-2017/Dokumentation

Gespräch mit der Sprecherin für antifaschistische Politik der Linksfraktion im deutschen Bundestag, Martina Renner, über den Ermittlungsstand im NSU-Fall, die Renaissance rechter Gewalt und die Aufgaben von Antifaschistinnen.

Gespräch mit der Sprecherin für antifaschistische Politik der Linksfraktion im deutschen Bundestag, Martina Renner, über den Ermittlungsstand im NSU-Fall, die Renaissance rechter Gewalt und die Aufgaben von Antifaschistinnen.

Im Herbst jährte sich die offizielle Enttarnung des NSU zum fünften Mal. Was wissen wir heute, was ist weiterhin unklar?

Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) spricht niemand mehr von einer Zelle oder einem Trio. Mit Nachdruck konnten Engagierte in Untersuchungsausschüssen, die Nebenklage im NSU-Prozess und antifaschistische wie journalistische Recherche deutlich machen, dass es sich um ein rechtsterroristisches Netzwerk handelt. Nach fünf Jahren Aufklärungsarbeit ist auch klar, dass die Polizei aus rassistischer Leitmotivation die Beweggründe für die Morde und Anschläge im Umfeld der Opfer suchte. Keiner sollte mehr ernsthaft von individuellen Fehlern in der polizeilichen Ermittlungsarbeit sprechen, das Problem ist struktureller Rassismus. Ebenso ist klar, dass die Verfassungsschutzbehörden nicht nur maßgeblichen Anteil am Aufbau militanter rechter Strukturen hatten und diese vor Strafverfolgung schützten, sondern auch gezielt die Fahndung behinderten und wichtige Akten vernichteten.

Ungeklärt und eine offene Wunde der Angehörigen bleibt die Frage nach den Gründen, warum gerade ihre Väter, Brüder, Söhne, ihre Tochter ermordet wurden, ob es unbekannte Mittäter oder Verbrechen gibt, die dem NSU zugerechnet werden müssen. Gerade letzte Frage hat neuen Auftrieb erhalten, nachdem es Hinweise darauf gibt, dass der NSU auch jüdische Anschlagziele in Berlin auskundschaftete.

Wie würden Sie vom heutigen Erkenntnisstand die Rolle der Geheimdienste und den Einsatz von V-Leuten beschreiben? Was ist immer noch unklar?


Die Rolle des Inlandsgeheimdiensts ist für die LINKE zentral. Wir sind fest davon überzeugt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) schon vor 2011 Kenntnis von rechtsterroristischen Bestrebungen aus dem Umfeld des NSU hatte. Sowohl die Bezeichnung "Nationalsozialistischer Untergrund" als auch der zeitweilige Aufenthaltsort der Jenaer Drei war dem BfV bekannt. Hätte die Mord- und Anschlagserie gestoppt werden können, hätten Leben gerettet werden können, wenn der Geheimdienst seine Information richtig bewertet und mit der Polizei geteilt hätte? Dies bleiben die wichtigsten Fragen.

Hat sich durch NSU etwas an der Geheimdienst-Praxis geändert? Was müsste geschehen?

Die V-Leute-Praxis der Geheimdienste hat jegliche Trennlinie zwischen Staat und neonazistischen Kriminellen verschwimmen lassen. Niemand kann sagen, wo der Verfassungsschutz endete und der NSU begann. Auf der Suche nach "wertigen" Quellen hat man Skinheads in die Führungsebenen von Blood and Honour und anderen Organisationen hochgespielt. Hauptamtliche Neonazi-Kader als Mitarbeiter des Staates haben die Szene strukturiert, europaweit vernetzt und radikalisiert. Der Schutzschirm für Spitzel weitete sich auf deren Umfeld aus, das Gefühl der Straflosigkeit bestärkte die Szene. Unzählige polizeiliche Ermittlungsverfahren wurden sabotiert oder verliefen im Sande. Geändert hat sich wenig. Einige Bundesländer haben die Regeln zur Führung von V-Leuten und das Controlling verschärft. Ob dies zu einer Abänderung der Praxis führte, sei dahingestellt. Das Bundesamt hat jetzt eine Legaldefinition im entsprechenden Gesetz, das ihr erlaubt Straftäter als V-Leute zu führen, sogar im Ausland, und auch weiterhin vor strafprozessualen Maßnahmen zu schützen.

Wie lässt sich die Arbeit der NSU-Ausschüsse beschreiben? Was ist bisher passiert und was ist noch von den Ausschüssen zu erwarten?


Die Arbeit in den immer noch sieben Untersuchungsausschüssen in Bund und den Ländern verläuft sehr unterschiedlich. Es herrscht noch immer ein immenser Druck seitens der Sicherheitsbehörden und von Teilen der Politik, Dinge unter dem Teppich zu halten. Je nach Farbenspiel der letzten Regierungen verlaufen die Allianzen der Aufklärer und Blockierer ganz unterschiedlich. Grundsätzlich haben die Ausschüsse auch in der zweiten Runde mit lügenden Zeugen zu kämpfen. Dies gilt insbesondere für Geheimdienstmitarbeiter und Neonazis, die zunehmend auch in den Zeugenstand gerufen werden.

Welche Dimension haben militante Neonazigruppen in der Bundesrepublik heute?

Es gibt eine erschreckende Renaissance gewalttätiger Organisationen der extremen Rechten, die sich offen auf teilweise auch verbotene Gruppierungen der 90er Jahre beziehen. Der Ku-Klux-Klan mit seinen Ablegern in Deutschland ist nur ein Beispiel. Ebenso wurden die Gruppen "Blood and Honour", "Combat 18" und die sogenannte Anti-Antifa wiederbelebt. Damit wird nicht nur der Hochphase rechten Straßenterrors nach 1945 Tribut gezollt, es findet auch ein Erfahrungstransfer an eine neue Generation militanter Neonazis statt. Seit 2013 überzieht eine neue Welle rechter, rassistischer Gewalt die Bundesrepublik. Bedroht sind vor allem Geflohene, von Rassismus Betroffene und Linke. Dabei kommt es immer häufiger zu Brand- und Sprengstoffanschlägen. Die Zahl der rechten Tötungsversuche wuchs dramatisch an. 2014 zählten die Behörden lediglich eine versuchte Tötung aus rechten bzw. rassistischen Motiven; 2016 waren es etwa ein Dutzend, darunter ist nicht das Massaker, das am 22. Juli in München verübt wurde und dem offenbar aus rassistischer Motivation des Täters neun Migrantinnen zum Opfer fielen. Unklar ist auch noch, ob der Mord an einem Polizisten durch einen sogenannten Reichsbürger in Franken von den Ermittlungsbehörden als rechts motiviert anerkannt wird.

Stichworte AtD, Pegida. bzw. für Österreich: FPÖ, "ldentitäre". Welche Strategien muss antifaschistische Politik entwickeln, um der Popularität rechter und "neurechter" Gruppen etwas entgegenzusetzen?


AfD, Identitäre, das Rechts-Außen Magazin Compact, Bürgerwehren und Online-Rassistlnnen schaffen ein Klima, das Gelegenheitsattentäter und organisierte Neonazis anspornt. Ideologischer Bezugsrahmen von Hetze und Gewalttaten ist nicht nur die Vorstellung angeblicher "weißer" Überlegenheit, sondern auch der vermeintliche Abwehrkampf gegen Einwanderung, "Grün-Linke-Versifftheit" oder "Genderwahn". Dies ist gefährlich, weil es die Rechtfertigung brutaler Gewalt darstellt. Auch Anders Breivik sah seine Morde als Notwehr.
2015 wurden fast 1000 illegale Waffen bei Neonazis im Zuge von Durchsuchungen entdeckt, auch rüsten Alltagsrassisten mit Schreckschuss-, und Gaswaffen auf. Die neue Dimension rassistischer Gewalt und rechten Terrors stellt Gesellschaft, Politik und Institutionen vor die Fragen: Wie schützen wir effektiv potentielle Opfer rechter/rassistischer Gewalt, wie verhindern wir Täter-Opfer-Umkehr, wie wir es im NSU-Komplex erlebt haben, wie entwaffnen wir die neonazistische Szene, wie drängen wir rechte Einstellungen zurück, und wie verteidigen wir die Demokratie gegen Angriffe von rechts und von oben? Unsere Antwort ist linke Politik.

Martina Renner ist Mitglied des Deutschen Bundestages, Mitglied im Innenausschuss und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, sowie Sprecherin für antifaschistische Politik der Linksfraktion im Bundestag und Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss. Zudem ist sie Mitglied im Landesvorstand im Thüringer Verband der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten e.V. (VVN-BdA), der Schwesterorganisation des KZ-Verband/VdA. Über ihr Politikverständnis sagt Martina Renner, dass der Abbau des Sozialstaates und der Ausbau eines obrigkeitshörigen
Ordnungsstaates "zwei Seiten einer Medaille" seien. "Freiheit und soziale Gerechtigkeit als Einheit zu denken, muss die Antwort auf diese Entwicklung sein. Diese Auseinandersetzung im Parlament und in den sozialen Bewegungen zu fuhren, bleibt mein Credo." Dazu gehört für Martina Renner insbesondere, dass sie sich "seit mehr als zwei Jahrzehnten gegen Neonazis, Rassismus und für eine offene Gesellschaft" engagiert.

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