Antifaschismus

Gretchenfrage: Sag mir, wie hältst Du’s mit dem Staatsversagen

Quelle: prager-fruehling-magazin.de/April2017/Dokumentation

Staatsversagen: Den einstigen Kampfbegriff der Neoliberalen hat die AfD übernommen und umgedeutet. Die Redaktion des Prager Frühling hat sechs LINKE gefragt. Hier die Antwort von Martina Renner.

Ich liege schon lange mit dem Wort "Staatsversagen" über Kreuz. Genauer, seit diesen Monaten nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) am 4.11.2011. Schnell war klar: Das Scheitern der Fahndung nach dem Kerntrio, die katastrophal falsche Ermittlungsarbeit der Polizei und der flächendeckende Aufbau einer ganzen Szene von Neonazis durch Behörden waren nicht Ausdruck des Versagens, sondern Ausdruck des Funktionierens eines Systems. Der NSU war kein Unfall sondern Konsequenz. Aber irgendwie sprach niemand von Schuld, man vermied das Wort Staatskrise oder Staatsverbrechen. In Italien oder der Türkei wäre man da forscher in der Analyse gewesen. Dort war immer denkbar, dass der Staat Teil von rechtem Terror ist. Aber in der Bundesrepublik sprach man vornehm von "Staatsversagen". Das Wort ist so geschmeidig wie falsch, wenn es um das Gewährenlassen von Neonazi-VerbrecherInnen geht. Es suggerierte, in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes ginge es um ein einmaliges und auf Pannen oder menschlichen Fehlentscheidungen beruhendes Nichtfunktionieren der Sicherheitsbehörden.

In dieser Erzählung haben die Behörden lediglich zu wenige Daten getauscht und der Föderalismus hat die Zusammenarbeit der Polizeien behindert. Das was antifaschistische Recherche, engagierte Nebenklage und linke Aufklärung in den Untersuchungsausschüssen aber herausgearbeitet haben ist etwas anderes. Es gab politische wie strukturelle Voraussetzungen für die jahrzehntelange Praxis insbesondere in den Geheimdiensten Rechtsterror zu verneinen, bzw. nur im Schema des linken Terrorismus der 1970er & 1980er Jahre zu denken. Flankiert wurden diese Voraussetzungen durch Ermittlungsbehörden, die in der langen Genealogie rechter Terrorakte nach Kriegsende immerzu Einzeltäter ohne erkennbaren Bezug zu neonazistischen militanten Strukturen oder zu einer Vorstellungswelt sahen, in welcher der einsame "Weiße Wolf" aus Überzeugung für den Rest vom Rudel mordet.

Diese Fehleinschätzung der Sicherheitsbehörden ist wiederum kein Zufall. Sie hat ihre Voraussetzung in der Übernahme alter Nationalsozialisten insbesondere in den Inlandsgeheimdienst, den Bundesnachrichtendienst bzw. dessen Vorläuferin der "Organisation Gehlen" und das Bundeskriminalamt. Deren nationalsozialistischer Antikommunismus war durchaus kompatibel mit der Feindbestimmung im Kalten Krieg und resultierte in der Bekämpfung linker Organisationen und dem Aufbau militanter rechter Strukturen. Gesteuert im Sinne der Behörden wurden und werden diese Strukturen über V-Leute. Wer glaubt, dieses Bild sei überzeichnet, dem seien die Pamphlete des ehemaligen Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes Helmut Roewer über die Widerstandsgruppe ‚Rote Kapelle‘ anempfohlen.

So wenig wie die Vorgeschichte des NSU als "Staatsversagen" bezeichnet werden kann, so wenig trifft diese Bezeichnung auf die Aufarbeitung zu.

Wissentlich und absichtsvoll wurde von ganz Oben, namentlich von Staatssekretär Fritsche vertuscht was das Zeug hält. Dafür war jedes Mittel recht - auch das der Straftat. Beweismittel wurden vernichtet und manipuliert. Asservate & Akten verschwanden. Ein Dejavu für alle, die sich mit dem Oktoberfestattentat beschäftigt hatten. Der Presse wurde immer und immer wieder die Erzählung eines isolierten Trios in den Block diktiert. Wir wissen heute: Der NSU war ein Netzwerk, weit verzweig, gut organisiert und unter steter Beobachtung der Behörden. Inzwischen sieht man die Geschichte in ihren vermeintlich letzten Akt gehen. Fünf, vielleicht auch nur vier oder drei Haftstrafen nach dem Urteil des OLG in München und dann ist wieder Ruhe im Land, obwohl draußen der rassistische Terror gegen Geflüchtete und ihre Unterstützer_innen tobt. Auch das was gerade als Neuer Rechter Terror das ganze Land überzieht hat nichts mit Staatsversagen zu tun, sondern mit Behörden die noch immer rechten Terror nicht erkennen können oder wollen.

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