Ein Fall für Karlsruhe

Quelle: Süddeutsche Zeitung/11.08.2015/Dokumentation

Kein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo in Deutschland eine Flüchtlingsunterkunft angegriffen wird. Etwa 200 Angriffe waren es in den ersten beiden Quartalsenden des Jahres. Das Bundeskriminalamt (BKA) rechnet damit, dass es in Zukunft noch viel mehr werden könnten. Bisher kann das BKA zwar keine bundesweit gesteuerten Aktionen erkennen. Die Linke appelliert aber bereits an den neuen Generalbundesanwalt (GBA) Peter Frank, endlich aktiv zu werden. „Er darf nicht länger ignorieren, dass es sich um rechten Terror handelt“, sagt die Linken- Bundestagsabgeordnete Martina Renner. Dies seien Angriffe auf die Menschenwürde nach Artikel 1 des Grundgesetzes. Die Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte könnten in vielen Fällen als versuchter Totschlag gewertet werden und seien von bundesweiter Bedeutung. Deshalb müsse sich der GBA in Karlsruhe einschalten.

Die Möglichkeiten der obersten Strafverfolgungsbehörde, Ermittlungen an sich zu ziehen, sind so groß wie nie zuvor. Seit Anfang August greift ein neues Gesetz, das als Lehre aus dem NSU-Fall verabschiedet wurde und die Spielräume des GBA erheblich erweitert. Er kann nun leichter tätig werden, wenn es sich umschwerwiegendeStraftaten oder um Staatsschutz-Delikte handelt. Derzeit beobachtet der GBA die Vorfälle. In drei Fällen hat er im zweiten Quartal bereits Vorermittlungen eingeleitet, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage hervorgeht. Das Bundesjustizministerium teilte der Abgeordneten Renner zudem mit, der GBA sehe in den jüngsten Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte „eine besondere Gefahr für den Rechtsfrieden “. Er beobachte die Vorfälle daher „mit
erhöhter Aufmerksamkeit" - vor allem im Hinblick auf die „besondere Bedeutung des Falls“. Dies ist eines der Kriterien, die vorliegen müssen, damit der GBA die Ermittlungen an sich ziehen kann.

Vor der Gesetzesform war die Kompetenz des GBA stärker begrenzt. Eine Übernahme von Staatsschutz- Fällen konnte, wie in Justizkreisen zu hören ist, auch an mangelnder Kooperation der lokalen Ermittler scheitern. Manch ein Lokalpolitiker ist ebenfalls froh, wenn der GBA keine Rolle spielt. Schaltet er sich ein, erzeugt dies bundesweite Aufmerksamkeit, die sich viele Kommunen, wenn es um Angriffe auf Asylbewerber geht, nicht wünschen.
Dass bei der Vielzahl an Attacken auf Unterkünfte in den vergangenen Wochen niemand ums Leben kam, ist ein Umstand  des Glücks. Die Anschläge richteten sich keineswegs nur gegen unbewohnte Häuser. Zwei Beispiele: Im sächsischen Freiberg verübten Unbekannte im Februar einen Sprengstoffanschlag. Mehrere Menschen wurden verletzt, ein Mann erlitt ein Knalltrauma. In Brandenburg an der Havel legten Unbekannte im Juli einen Brand vor einer Wohnung, in der eine Flüchtlingsfamilie mit drei kleinen Kindern lebt.