Leugnen als politisches Programm

Quelle: der rechte rand/18.12.2017/Dokumentation

Die bayerische Staatsregierung und das Landeskriminalamt weigern sich vehement, den Terroranschlag im Olympia-Einkaufszentrum in München als rechtsmotivierte Gewalttat anzuerkennen. Für »der rechte rand« sprach Sören Frerks mit der Innenpolitikerin Martina Renner (MdB, »Die Linke«) über gezieltes Verschweigen, die offene Frage nach Geheimdienstspitzeln und den wachsenden Druck auf die Behörden.

drr: Beim Terroranschlag in München wollen die Behörden keinen rassistischen oder rechten Hintergrund sehen, obwohl anderweitige Einschätzungen erdrückend sind. Warum sind die Sicherheitsbehörden in Bayern erneut auf dem rechten Auge blind?

Martina Renner: Die bayerischen Behörden sind meines Erachtens keineswegs blind auf dem rechten Auge. Das bayerische Innenministerium und die Staatsregierung treffen vielmehr sehr gezielt die Entscheidung, die tödliche Dimension rechter Gewalt sowie darüber hinaus die reale Dimension rechter und rassistischer Alltagsgewalt so lange wie möglich zu verschweigen. Im Jahr 2016 sind in Bayern zehn Menschen durch zwei politisch rechts und rassistisch motivierte Täter getötet worden: Der Polizeibeamte Daniel Ernst, der von einem bekannten Anhänger der Reichsbürger- Bewegung am 19. Oktober 2016 in Georgensgmünd erschossen wurde. Und neun Todesopfer des Terroranschlags vom 22. Juli 2016 am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München – zumeist Jugendliche, deren familiäre Wurzeln in Deutschland, im Kosovo, in der Türkei, Griechenland und Ungarn die Normalität jeder Großstadt abbilden. Die bayerische Regierung hat sich von Anfang an geweigert, diese zehn Menschen als Todesopfer rechter Gewalt anzuerkennen. Bei dem SEK-Beamten Ernst änderte sich das erst, nachdem durch eine schriftliche Frage von mir bekannt wurde, dass die Bundesregierung ihn nicht als Todesopfer rechter Gewalt aufführte. Da die Landeskriminalämter für die Meldung von rechtsmotivierten Gewalttaten und Tötungsdelikten an das BKA zuständig sind, war damit klar, dass das Problem bei den Behörden in Bayern lag. Erst nachdem dortige Medien über die verweigerte Anerkennung berichteten, erfolgte eine Korrektur durch den CSU-Innenminister. Im Fall der OEZ-Opfer ist der Widerstand von Seiten der Behörden noch viel größer und kommt meines Erachtens sowohl aus dem LKA Bayern als auch aus dem Landesamt für Verfassungsschutz.

Ist das Nicht-Sehen-Wollen systembedingt oder individuelles Versagen?

Die tödliche Dimension rechter und rassistischer Gewalt unter den Teppich zu kehren, ist in Bayern politisches Programm. Und gerade deshalb ist die Frage der Anerkennung als PMK-Rechts-Tötungsdelikt im Fall des OEZ-Anschlags ein ganz zentraler Punkt: Erst wenn auch die Staatsregierung eingesteht, dass rechte und rassistische Gewalt im vergangenen Jahr zehn Menschenleben gefordert hat, gibt es ein öffentliches Eingeständnis, wie groß das Problem sowohl organisierter Neonazigewalt als auch der rassistischen GelegenheitstäterInnen tatsächlich ist. Darauf weisen die zivilgesellschaftlichen Initiativen und die unabhängigen Opferberatungen in München und Bayern zu Recht immer wieder hin, auch in Bezug auf die unzähligen Angriffe auf MigrantInnen und Flüchtlingsunterkünfte im Freistaat. Und natürlich geht es hier um eine Auseinandersetzung über die politische und gesellschaftliche Definitionshoheit: Traditionell steht der politische Feind insbesondere in Bayern links – das haben wir beim Versuch von Rechts, den diesjährigen Antifa-Kongress in München zu verhindern, wieder einmal eindrücklich gesehen. Im Fall des OEZ-Attentats entgleitet den Behörden des Freistaats nach großem Druck langsam die Definitionshoheit, weil die überlebenden Opfer, die Angehörigen der Getöteten, ihre AnwältInnen und unabhängige WissenschaftlerInnen wie auch JournalistInnen nicht nachgeben und ihrer kritischen Perspektive Gehör verschafft haben.

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